domingo, 3 de marzo de 2019

Gewerkschaften in Lateinamerika

Erfolgreiche gesellschaftspolitische Akteure kämpfen um ihre Errungenschaften


In Lateinamerika ist das gewerkschaftliche Engagement außerordentlich hoch. Insbesondere im Süden konnten sich die Gewerkschaften in der letzten
Dekade als anerkannte soziopolitische Akteure etablieren. Eine
wichtige Rolle kommt der igb-Regionalorganisation csa zu,
die auf regionaler und internationaler Ebene Akzente setzt. Nun
aber fürchten die Gewerkschaften
um die Errungenschaften der vergangenen Jahre.



■■Lebensgefährliches Engagement: Lateinamerika ist für Gewerkschafter_innen riskant

In Lateinamerika und der Karibik gewerkschaftlich aktiv zu sein, verlangt großen Mut. Denn gewerkschaftsfeindliche Praktiken und Gewalt gehören zum Alltag der Menschen auf dem Kontinent. Nach Einschätzung des Interna- tionalen Gewerkschaftsbunds (igb) ist Lateinamerika die gefährlichste Weltre- gion für die Ausübung von Gewerkschaftsarbeit. Die Formen von Behinderung und Diskriminierung sind dabei vielfältig. Sie reichen von Unterdrückung bis

Simone Reperger: Politikwissenschaftlerin und Kommunikationswissenschaftlerin. Von 2012 bis Mitte 2016 war sie die Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung (fes) in Uruguay und Leiterin des Regionalen Gewerkschaftsprojektes für Lateinamerika und Karibik. Derzeit leitet sie das Büro der fes in Chile.

Schlagwörter: Gewerkschaften, Lateinamerika, soziale Fortschritte, Gesamtamerikanischer Gewerschaftsbund csa, Gesamtamerikanische Plattform für Entwicklung (plada).


hin zu Mord. Nirgendwo sonst auf der Welt verloren in den letzten Jahren mehr Gewerkschaftsaktivist_innen das Leben.

Das Recht auf Vereinigungsfreiheit wird in den meisten Ländern regelmäßig verletzt. Obwohl viele Länder über eine angemessene Gesetzgebung verfü- gen, wird diese in der Praxis von Wirtschaft und Politik häufig nicht res- pektiert. Gleichzeitig wird die Gründung von Gewerkschaften in kleinen und mittleren Betrieben oftmals erschwert. Auch die Tarifautonomie wird in vielen Fällen unterlaufen und Lohnverhandlungen dürfen oft nur auf be- trieblicher Ebene stattfinden. Verstöße gegen Arbeitsgesetze werden in den meisten Fällen nicht geahndet; es fehlt an einer wirksamen Aufsicht von Sei- ten der Regierung. In der Folge sind in den meisten Ländern Lateinameri- kas die Arbeitsbedingungen von nur 10 % der Erwerbstätigen durch einen Tarifvertrag geregelt. In Chile sind es sogar nur 4 % – ein Negativrekord im weltweiten Vergleich! Gewerkschaftsfeindliche Praktiken der Arbeitgeber_ innen, die echte Gewerkschaften zerstören, sind ebenfalls in vielen Ländern allgegenwärtig. Beispiele sind das System der sogenannten Schutzverträge in Mexiko oder der solidarischen Vereinigungen (»Solidarismo«) in El Sal- vador, Ecuador und Costa Rica.

Guatemala und Kolumbien gehören laut dem Globalen Rechtsindex des igb sogar zu den schlimmsten Orten der Welt für erwerbstätige Menschen. Hier sind keinerlei Grundrechte garantiert. Das Ausmaß der Verletzungen durch Schikanen, Drohungen und tätliche Gewalt, denen Gewerkschaf- ter_innen ausgesetzt sind, ist extrem hoch. Zwischen 1986 und 2015 wurden in Kolumbien schätzungsweise knapp 3.000 Gewerkschafter_innen ermor- det. Straffreiheit bei Verbrechen an Gewerkschafter_innen ist zudem eine traurige Realität. Daher ist es kein Wunder, dass jährlich im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf die meisten Debatten über latein- amerikanische Länder geführt werden.

■■Schwach im Norden, stark im Süden – die Heterogenität der lateinamerikanischen Gewerkschaftslandschaft

Trotz dieser schwierigen Ausgangslage gibt es in Lateinamerika außeror- dentlich viel gewerkschaftliches Engagement. Dies ist ein zentrales Element der Demokratieentwicklung in den Ländern der Region. Gewerkschaft- liche Interessenvertretung ist ein demokratisches Grundrecht. Sie gibt einem relevanten Teil der Bevölkerung die Möglichkeit, an der wirtschaft- lichen, sozialen und politischen Gestaltung der Gesellschaft im Sinne von
menschenwürdiger Arbeit und sozialer Gerechtigkeit mitzuwirken. Ohne Gewerkschaften ist heutzutage keine soziale Demokratie denkbar – weder in Lateinamerika noch in anderen Weltregionen.

So unterschiedlich die lateinamerikanischen Länder hinsichtlich ihrer kultu- rellen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung sind, so bunt ist auch die Gewerkschaftslandschaft des Kontinents. Der Organisationgrad in Ar- gentinien, Brasilien, Bolivien und Uruguay liegt beispielsweise über dem in Deutschland, während er in Nicaragua keine 4 % erreicht. Erklärungsfakto- ren für diese starken Asymmetrien sind zum einen die unterschiedlichen Produktionsstrukturen in den jeweiligen Ländern und die damit verbunde- ne strukturelle Macht der Lohnabhängigen und ihrer Vertretungen. Zum anderen sind diese Diskrepanzen auf die jeweiligen gesetzlichen Rahmen- bedingungen und nationalen Praktiken im Hinblick auf die Vereinigungs- freiheit, das Streikrecht und die Tarifautonomie zurückzuführen. Drittens sind das Selbstverständnis, die Organisationskultur und die gesellschafts- politische Rolle der Gewerkschaftsbewegung im jeweiligen Land wesent- lich. Es gilt heutzutage die Faustregel »Im Norden schwach, im Süden stark«. Vor allem in Brasilien und Uruguay war die Aufwertung und Anerkennung durch progressive Regierungen in der letzten Dekade ein wichtiger Faktor. Gewerkschaften sind in diesen Ländern bei der Bevölkerung anerkannte gesellschaftspolitische Akteure mit guten politischen Zugängen und ent- sprechenden Gestaltungsmöglichkeiten. Hier setzten die Dachverbände in den vergangenen Jahren nicht nur die Forderungen ihrer Mitglieder durch und erzielten beachtliche Gehaltssteigerungen, sie betrieben auch eine ak- tive Mindestlohnpolitik. Sie verstehen sich als soziopolitische Akteure, die sich im Sinne der Arbeitnehmer_innen zu gesamtpolitischen Fragen positi- onieren und ihre Ansichten in wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitische Debatten einbringen.

■■Die Besonderheit: eine starke, gestaltungswillige Regionalorganisation für 50 Millionen Menschen aus 23 Ländern

Angesichts dieser starken Unterschiede innerhalb der lateinamerikani- schen Gewerkschaftsbewegung sind Organisationsstrukturen auf regio- naler Ebene ein wichtiger Mechanismus des Erfahrungsaustausches, der gegenseitigen Stärkung und Strategieentwicklung sowie einer wirksamen Interessenartikulation. Der wichtigste regionale Player ist dabei die igb-Re- gionalorganisation Confederación Sindical de Trabajadores y Trabajadoras de las Américas (csa). Die 2008 gegründete Organisation vertritt 53 nationale


Dachverbände aus 23 Ländern – von Argentinien über Haiti bis Kanada, die insgesamt etwa 50 Millionen Arbeitnehmer_innen repräsentieren. Bereits kurz nach ihrer Gründung etablierte sich die csa als handlungsfähige, ge- staltungswillige igb-Regionalorganisation, die, neben den europäischen Or- ganisationen, am deutlichsten mit einem eigenständigen Profil auftritt und in der gewerkschaftspolitischen Diskussion auf regionaler und internationa- ler Ebene Akzente setzt. Damit verbunden ist der Anspruch, die Perspektive Lateinamerikas auch in globalen Debatten und Foren zu verankern.

Alle vier Jahre findet der csa-Kongress statt; der letzte, im April 2016 in Bra- silien, stellte die Weichen für die gegenwärtige Periode. Mit der Wahl des Kon- gressthemas »Mehr Demokratie, mehr Rechte, mehr Arbeit« hat sich die csa als progressiver Akteur und politische Stimme präsentiert. Ihr Programm enthält nicht nur klassische gewerkschaftliche Themen wie Lohnerhöhungen und Kündigungsschutz, sondern in erster Linie soziopolitische Forderungen nach einer nachhaltigeren, sozialverträglicheren Wirtschaftspolitik. Das 2014 veröffentlichte Positionspapier plada – Plataforma para el Desarrollo de las Américas (Gesamtamerikamische Plattform für Entwicklung) zeigt die Forde- rungen der csa nach mehr partizipativer Politik, mehr ökologischer Transfor- mation und mehr Sozialstaat klar auf. Die plada bietet interessante Ansätze für die globale post-neoliberale Debatte. Geplante Freihandelsabkommen wie zwischen der Europäischen Union und den usa sowie den pazifischen Staaten



Mit Hilfe der plada hat sich die cSa in kurzer Zeit politisches Gehör verschafft und an Ansehen gewonnen  und den usa werden von der csa kritisch beurteilt: Sie würden zu Sozialdumping und geringeren Umweltauflagen füh- ren und damit die Arbeitnehmer_innen schlechter stellen. Mit Hilfe der plada hat sich die csa in kurzer Zeit viel politisches Gehör verschafft und an Ansehen gewon- nen. Drei wichtige Persönlichkeiten despolitischen Lebens – Uruguays damaliger Präsident Mujica, Chiles Staatsche- fin Bachelet und der Generalsekretär der Internationalen Arbeitsorganisa- tion (iao) Guy Ryder – trafen sich zu Gesprächen über die plada mit der csa-Führung und bezogen sich mehrfach in öffentlichen Reden auf das Dokument. Eine interessante Lektüre für alle Gewerkschafter_innen, nicht nur in Lateinamerika!

Die csa erfüllt damit heute die Funktion des wichtigsten Gremiums der latein- amerikanischen Gewerkschaftsbewegung für die Definition gemeinsamer Positionen in internationalen Fragen. Sie koordiniert länderübergreifende

Kampagnen und schmiedet zahlreiche Allianzen mit Nichtregierungsorga- nisationen, progressiven Parteien und sozialen Bewegungen. Und dies mit großen Erfolg! Beispiele dafür sind die weltweit größte Beteiligung von De- monstrant_innen am World Day for Decent Work in Lateinamerika sowie die erfolgreiche Implementierung der iao-Konvention 189 für Hausangestellte in bislang elf lateinamerikanischen Staaten. Kein anderer Kontinent erziel- te vergleichbare Erfolge. Damit gewinnt die lateinamerikanische Gewerk- schaftsbewegung zunehmend an internationaler Bedeutung und kann der wichtigste Bündnispartner für Europa sein. Zwei Gründe dafür liegen auf der Hand: Erstens stehen sich Europa und Lateinamerika kulturell sehr nahe und sind damit natürliche Partner. Im Gegensatz zu den Gewerkschaften in Afrika, Asien und dem Nahen Osten teilen sie gemeinsame Werte und »ti- cken« hinsichtlich gewerkschaftlicher Forderungen und Handlungsspielräu- me gleich. Zweitens verfolgen die lateinamerikanischen und europäischen Gewerkschaften die gleichen globalen Ziele: Sicherzustellen, dass Freihan- delsabkommen (tisa, ttip) nicht auf Kosten der Menschen gehen, ist z. B. derzeit eine Priorität auf beiden Seiten des Atlantiks. Auch bei den Verhand- lungen der un (z. B. im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation iao) ist die Schnittmenge der gemeinsamen Interessen groß. Für Europa lohnt sich damit der Blick nach Lateinamerika!

Bemerkenswert ist, dass die csa auch selbstkritisch auf den Zustand der ei- genen Organisation blickt. Tabuthemen wie gewerkschaftliche Erneuerung, mehr Gendergleichheit und Generationengerechtigkeit sowie mehr Einsatz für Arbeiter_innen in der Schattenwirtschaft waren zentrale Diskussions- punkte des Kongresses. Man hat sich vorgenommen, künftig eine integrati- vere und noch demokratischere Gewerkschaftsbewegung zu werden.

■■Weltverbände der Branchengewerkschaften – Gegenmacht zu transnationalen Konzernen

Nicht nur die igb-Regionalorganisation, sondern auch die Weltverbände der Branchengewerkschaften – die Global Union Federations (gufs) – spielen in Lateinamerika eine zentrale Rolle, um die Interessen der Arbeitnehmer_in- nen in einer globalisierten Weltwirtschaft zu verteidigen. Um der zunehmen- den, spürbaren Macht transnationaler Konzerne etwas entgegenzusetzen, müssen sich Gewerkschaften länderübergreifend vernetzen. Finanzmärkte, Handelsbeziehungen und Produktionsabläufe sind nicht mehr auf einzel- ne Nationalstaaten begrenzt und können von diesen nicht allein reguliert werden. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die soziale Situation der

Arbeitnehmer_innen und auf das Kräfteverhältnis zwischen den Sozialpart- nern. Die »gufs« treiben die Vernetzung von Gewerkschafter_innen auf re- gionaler und globaler Ebene voran und schließen Rahmenabkommen über soziale Mindeststandards mit dem Management multinationaler Konzerne ab. Ebenso werden Kampagnen zu einzelnen Unternehmen oder Branchen durchgeführt. In einigen Weltkonzernen ist es bereits gelungen, transnati- onale gewerkschaftliche Netzwerke aufzubauen. In Unternehmen wie der basf, Nestlé, Coca-Cola oder Daimler-Chrysler arbeiten diese Netzwerke be- reits seit Jahren – mit oder ohne Unterstützung der Geschäftsleitung. Diese Maßnahmen sind nicht mehr als erste Schritte zu einer wirkungsvollen globalen Interessenvertretung von Beschäf- tigten. Aber in Lateinamerika sind einige Erfolge bereits sichtbar.


Zusammenarbeit mit dem uruguayischen Gewerkschaftsdachverband pit-cnt, die Regierung in Montevideo davon zu überzeugen, aus den tisa1-Verhandlun- gen auszusteigen. Durch gemeinsame Kampagnen und Allianzbildung mit sozialen Bewegungen sowie linken Parteien stießen die Gewerkschaften eine kritische Debatte über das geplante Abkommen an, welches das Ziel verfolgt, weltweit Dienstleistungen zu liberalisieren und einem stärkeren Wettbewerb auszusetzen. Die Gewerkschaften befürchten, dass es durch tisa zu Soziald- umping und negativen Folgen für öffentliche Institutionen und Unternehmen kommen könnte. Letztendlich beugte sich Präsident Tabaré Vázquez dem Druck und beendete die Teilnahme seines Landes an den tisa-Verhandlungen.

Die Branchengewerkschaft psi feiert diesen Ausstieg als großen Erfolg und versucht heute in anderen Ländern ebenfalls Allianzen zu schmieden, um tisa zu stoppen und Arbeitnehmer_innenrechte zu schützen. Aus Latein- amerika sitzen derzeit noch Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko, Panama und Peru mit am Verhandlungstisch.

Diese spürbaren Erfolge der Gewerkschaften lassen sich bislang allerdings nur vereinzelt feststellen. Ein Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen

1. Trade in Services Agreement (tisa; deutsch: Abkommen über den Handel mit Dienst- leistungen).

Kapital und Arbeit ist noch lange nicht erreicht – trotz der Anstrengungen der Gewerkschaften, durch regionale und globale Vernetzung Gegenmacht zu transnationalen Konzernen aufzubauen.

■■Krisenstimmung in Lateinamerika – schwierige Zeiten stehen den Gewerkschaften bevor

Die kommenden Jahre werden für die Gewerkschaften in der Region schwierig werden. Aufgrund der zunehmenden Krisenstimmung in La- teinamerika – Brasiliens Politdrama, Argentiniens Rechtsruck, Mexikos Drogenkriminalität, Venezuelas Dauerkrise – wird es künftig weniger da- rum gehen, weitere Erfolge zu erzielen, sondern bisherige Errungenschaf- ten zu verteidigen. Denn der für die Gewerkschaften wichtige Rückenwind – Wirtschaftswachstum und gewerkschaftsfreundliche Regierungen – ist definitiv verschwunden.

Von den Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise glaubte Lateinamerika diesmal verschont zu bleiben. Die Region galt bis 2014 als Kontinent der Wirtschaftswunderländer mit durchschnittlichen Wachs- tumsraten von 3 %-9 % je nach Land. Lateinamerika setzte in den vergange- nen Jahren zunächst erfolgreich auf eine Reprimarisierung der Wirtschaft und positionierte sich als »Korn- und Rohstoffkammer der Welt«. In vielen Staaten ist die Wirtschaft in hohem Maße vom Export weniger Rohstoffe in wenige Länder abhängig. Chiles Exporterlöse hängen beispielsweise zu 54 % vom Kupfer ab, von dem der größte Teil nur in ein Land – nämlich China – geht. Bis vor kurzem profitierte die Region von den hohen Weltmarktprei- sen für diese Produkte sowie von steigenden ausländischen Direktinvestiti- onen, in erster Linie aus den usa und den eu-Staaten. Ein wichtiger Faktor war dafür die positive Dienstleistungs- und Infrastrukturentwicklung auf dem Kontinent (Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Häfen). Nun haben sich jedoch die internationalen Rahmenbedingungen für die Region verschlechtert. Schuld daran sind die Krise Europas, die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in China sowie die Geldpolitik der usa. Denn sie führen zu einem sinkenden Rohstoffhunger der Weltwirtschaft sowie zu fallenden Preisen für Primärgüter (Rückgang um 10 % 2014). Beides wirkte sich negativ auf die Handelsbilanz der lateinamerikanischen Staaten aus und zeigt die Krisenanfälligkeit, die die Reprimarisierung der Ökonomien mit sich bringt.

Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich laut der Wirtschaftskommis- sion für Lateinamerika und Karibik der Vereinten Nationen (cepal) von durchschnittlich 2,5 % (2013) auf 0,5 % im Jahr 2015. Die Bandbreite reicht dabei von Südamerika (0,4 %) über die Karibik (1,7 %) bis hin zu Mexiko und Zentralamerika (2,7 %). Die neue Geldpolitik der usa verringert zudem den Zustrom von ausländischen Direktinvestitionen nach Lateinamerika. Sie lagen 2014 bei 122 Mrd. us-Dollar (im Vergleich zu 157 Mrd. us-Dollar 2013). Für 2016 warnt die cepal vor einer weiteren Abschwächung des Wirtschafts- wachstums. Die Wirtschaftswunderjahre sind damit vorbei.

Bis vor kurzem spiegelten sich die Boomjahre noch auf dem lateinamerikani- schen Arbeitsmarkt wider. 2014 erreichte die Arbeitslosenrate einen histori- schen Tiefstand mit 6,2 % (nach 6,3 % im Vorjahr). Dies ist der beste Wert seit Beginn der statistischen Erhebungen vor 90 Jahren. Vor zehn Jahren betrug die regionale Arbeitslosenrate noch 11 %. Allerdings ist die Region auch hin- sichtlich dieses Aspektes von großen Asymmetrien zwischen den Ländern geprägt. Negativ fällt die Bilanz in Jamaica mit einer offiziellen Arbeitslosen- rate von 14 % aus. In Uruguay liegt die Arbeitslosigkeit dagegen mit 7 % auf einem Niedrigrekord. Dieser Erfolg ist laut Analysen der iao nicht alleine auf das Wirtschaftswachstum zurückzuführen, sondern auch auf eine akti- ve Lohn- und Mindestlohnpolitik sowie auf steuerfinanzierte Sozialtransfer- programme für die ärmsten Bevölkerungsschichten.

Die wirtschaftliche und politische Zeitenwende in Lateinamerika und der Ka- ribik droht nun diese Errungenschaften zunichte zu machen. Die Ära der ge- werkschaftsnahen Präsident_innen – Lula, Kirchner, Mujica – scheint zu Ende zu sein. Neoliberale Regierungen haben in für die Entwicklung der Region strategisch wichtigen Ländern wie Argentinien und Brasilien das Zepter über- nommen. Kürzungen der Sozialausgaben sowie Auflockerungen von Kün- digungsschutz und Aufweichung von Arbeitnehmer_innenrechten sind die ersten spürbaren Merkmale dieses Rechtsrucks. Die Gewerkschafter stellen sich heute mit Besorgnis die Frage, was von dem Reformvermächtnis der pro- gressiven Regierungen insbesondere in der Sozialpolitik übrig bleiben wird.

Lateinamerika steht somit vor großen Herausforderungen. Es ist nach wie vor die sozial ungerechteste Region der Welt, nirgendwo sonst ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer. Daran haben auch die Boomjahre kaum etwas geändert. Objektive Daten, die den Zustand einer Gesellschaft und das Ausmaß der sozialen Ungleichheit beschreiben, zeichnen ein düsteres Bild für Lateinamerika. Das Pro-Kopf-Einkommen der reichsten 20 % übersteigt die Löhne der ärmsten 20 % um das 20-fache. Nirgendwo sonst auf der Welt sind Kapital und Land so ungerecht verteilt wie in Lateinamerika. Laut dem aktuellen Human Development Report der Vereinten Nationen weist die Re- gion den höchsten Gini-Koeffizienten (0,57) der Welt auf und übertrifft damit die oecd-Länder (0,34) um über 60 %.

■■Soziale Inklusion oder Exklusion? Der Zugang zum formellen Arbeitsmarkt ist der entscheidende Faktor

Ob es in Lateinamerika und der Karibik künftig gelingt, ein sozial und öko- logisch nachhaltiges Entwicklungsmodell zu schaffen, hängt nicht allein da- von ab, die Konzentration auf Rohstoffe zu überwinden, sondern auch von der Arbeitsmarktpolitik. Die Reproduktion der sozialen Ungleichheit über Generationen hinweg wird vor allem auf die bestehenden Strukturen des Ar- beitsmarktes zurückgeführt. Denn der Zugang zum Arbeitsmarkt ist nach wie vor der Faktor, der in Lateinamerika über Inklusion oder Exklusion in die Gesellschaft entscheidet. Ein formeller Arbeitsplatz bedeutet Zugang zu Ar- beitsrechten, zu Kündigungsschutz, zu ausreichendem Lohn und zu Renten- ansprüchen. Heute arbeiten allerdings 45 % aller Lateinamerikaner_innen in der Schattenwirtschaft. 70 % der niedrig entlohnten Beschäftigten sind in Ar- beitsverhältnissen ohne Vertrag tätig und nur 37 % der Erwerbstätigen wer- den von sozialen Sicherungssystemen erfasst. Neben den Arbeitslosen gehört diese Gruppe der informellen Arbeiter_innen zu den Verwundbarsten – für sie sind Mindestlöhne und Krankengeld unerreichbare Luxusgüter.

Bislang nehmen sich aber weder die arbeitsmarktpolitischen Strategien der Regierungen noch die Aktionspläne der Gewerkschaften in gebührendem Maße dieses Problems an. Lediglich in Uruguay gelang es, durch innovative Konzepte auch Tarifverhandlungen für einst informelle Sektoren (Landarbei- ter_innen, Hausangestellte und andere) einzuführen und damit die Deckung der sozialen Sicherungssysteme auszuweiten. In Brasilien ermöglichten die positiven konjunkturellen Entwicklungen, den Trend zur weiteren Infor- malisierung des Arbeitsmarktes zu bremsen, und seit 2008 wurden durch Jobprogramme zwei Millionen neue formale Beschäftigungsverhältnisse ge- schaffen. Dies sind jedoch wenige positive Ausnahmen.

Dazu kommen geschlechtsspezifische Diskriminierung, hohe Jugendarbeits- losigkeit und Benachteiligung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit. Chancen- gleichheit ist daher nach wie vor eine Utopie. Gewerkschaften stehen damit vor der Herausforderung, sich künftig dieses gesamtgesellschaftlichen Prob- lems stärker anzunehmen.